17. Juni 2025

Die Dis­kri­mi­nie­rungs­ar­chi­tek­tin: Wie Julia Klöck­ner que­e­re Sicht­bar­keit sys­te­ma­tisch demontiert

Von tomate
Lese­dau­er 4 Minu­ten

Wenn Neu­tra­li­tät zur Waf­fe wird

Julia Klöck­ner hat in ihrer Rol­le als Bun­des­tags­prä­si­den­tin eine bemer­kens­wer­te Ent­schei­dung getrof­fen: Das Regen­bo­gen­netz­werk der Bun­des­tags­ver­wal­tung darf nicht mehr am Chris­to­pher Street Day in Ber­lin teil­neh­men. Die Begrün­dung? „Neu­tra­li­täts­pflicht“. Eine Argu­men­ta­ti­on von solch durch­sich­ti­ger Ver­lo­gen­heit, dass man sich fragt, ob Klöck­ner ihre Zuhö­rer für kom­plet­te Nar­ren hält.

Denn die­sel­be Bun­des­tags­prä­si­den­tin, die que­e­re Sicht­bar­keit beim CSD mit Ver­weis auf poli­ti­sche Neu­tra­li­tät unter­bin­det, lässt zum Inter­na­tio­na­len Tag gegen Homo‑, Bi‑, Inter- und Trans­pho­bie (IDA­HO­BIT) am 17. Mai sehr wohl die Regen­bo­gen­flag­ge am Bun­des­tag his­sen. Ein Wider­spruch, der jeder Logik spottet.

Klöck­ners Begrün­dung für die­se Dop­pel­mo­ral offen­bart die gan­ze Ver­lo­gen­heit ihrer Posi­ti­on: „Der Chris­to­pher Street Day lebe als Tag der Ver­samm­lung, des Pro­tests und der Fei­er von sei­ner kraft­vol­len Prä­senz auf den Stra­ßen“ und benö­ti­ge daher kei­ne zusätz­li­che Beflag­gung am Bundestag.

Moment – wir sol­len also glau­ben, dass gera­de weil der CSD so wich­tig für die Stra­ßen­prä­senz ist, man die­se Prä­senz aktiv schwä­chen soll­te, indem man dem Regen­bo­gen­netz­werk der Bun­des­tags­ver­wal­tung die Teil­nah­me ver­wei­gert? Die­se intel­lek­tu­el­le Gym­nas­tik wäre beein­dru­ckend, wenn sie nicht so durch­schau­bar wäre. 

Der Ber­li­ner CSD spricht zu Recht von einer „akti­ven poli­ti­schen Absa­ge an que­e­re Sicht­bar­keit“ und einem „poli­ti­schen Tabu­bruch“. Denn genau das ist es: eine bewuss­te Ent­schei­dung gegen die Com­mu­ni­ty, ver­klei­det als admi­nis­tra­ti­ve Neutralität.

Kir­chen­po­li­tik ja, Que­er­po­li­tik nein: Die Ana­to­mie der Doppelmoral

Beson­ders ent­lar­vend wird Klöck­ners Neu­tra­li­täts­rhe­to­rik, wenn man ihren eige­nen poli­ti­schen Akti­vis­mus betrach­tet. Am 3. Mai 2025 trat sie beim Deut­schen Evan­ge­li­schen Kir­chen­tag in Han­no­ver nicht nur als Gast auf, son­dern hielt eine Bibel­ar­beit (eine theo­lo­gi­sche Text­aus­le­gung mit aktu­el­len Bezü­gen), dis­ku­tier­te auf dem „Roten Sofa“ und ver­tei­dig­te ihre kir­chen­po­li­ti­schen Positionen.

Die katho­li­sche Theo­lo­gin und CDU-Poli­ti­ke­rin hat­te zuvor öffent­lich gefor­dert, Kir­chen soll­ten sich weni­ger zu tages­po­li­ti­schen The­men äußern und sich statt­des­sen auf „Sinn­fra­gen“ kon­zen­trie­ren. Dass sie selbst als Bun­des­tags­prä­si­den­tin bei einem kirch­li­chen Groß­ereig­nis auf­tritt und dort dezi­diert reli­giö­se und poli­ti­sche Posi­tio­nen ver­tritt, zeigt die gan­ze Dreis­tig­keit ihrer dop­pel­ten Stan­dards. Neu­tra­li­tät für ande­re pre­di­gen, wäh­rend man selbst unge­niert die eige­ne Agen­da vor­an­treibt – das ist Klöck­ners Poli­tik­ver­ständ­nis in Reinkultur.

Die Ent­schei­dung, zum IDA­HO­BIT die Regen­bo­gen­flag­ge zu his­sen, zum CSD aber nicht, ent­larvt das wah­re Motiv hin­ter Klöck­ners Manö­ver: Es geht nicht um Neu­tra­li­tät, son­dern um die stra­te­gi­sche Kon­trol­le quee­rer Sicht­bar­keit. Wäh­rend der IDA­HO­BIT als harm­lo­ser „Gedenk­tag“ durch­ge­wun­ken wer­den kann, ist der CSD expli­zit als Demons­tra­ti­on und poli­ti­scher Akt kon­zi­piert – und genau das ist Klöck­ner ein Dorn im Auge.

Dabei wur­de die Regen­bo­gen­flag­ge erst 2022 unter Bun­des­tags­prä­si­den­tin Bär­bel Bas erst­mals am Reichs­tags­ge­bäu­de gehisst – ein his­to­ri­scher Moment der Soli­da­ri­tät. Klöck­ner demon­tiert die­se sym­bo­li­sche Ges­te gezielt und instru­men­ta­li­siert dabei eine vor­geb­li­che Neu­tra­li­tät, die sie selbst nicht praktiziert.

Struk­tu­rel­le Dis­kri­mi­nie­rung als Verwaltungsakt

Hier liegt der fun­da­men­ta­le Mecha­nis­mus: Die Vor­stel­lung, ein Par­la­ment oder sei­ne Ver­wal­tung könn­ten „neu­tral“ sein, ist bereits eine poli­ti­sche Posi­ti­on. Wie der CSD-Ver­ein rich­tig ana­ly­siert: „Wer die Teil­nah­me von quee­ren Netz­werk­grup­pen staat­li­cher Insti­tu­tio­nen unter­sagt, kün­digt still­schwei­gend den Kon­sens auf, dass Grund­rech­te sicht­bar ver­tei­digt gehören.“

Ein Par­la­ment ist per Defi­ni­ti­on ein poli­ti­scher Raum. Sei­ne Ver­wal­tung ist Teil die­ses poli­ti­schen Sys­tems. Die Behaup­tung, man kön­ne sich aus poli­ti­schen Fra­gen her­aus­hal­ten, ist selbst eine hoch­po­li­ti­sche Ent­schei­dung – näm­lich die Ent­schei­dung für den Sta­tus quo und gegen mar­gi­na­li­sier­te Gruppen.

Was hier geschieht, ist struk­tu­rel­le Dis­kri­mi­nie­rung in Rein­form: ein­ge­bet­te­te Macht­struk­tu­ren, die bestimm­te Grup­pen sys­te­ma­tisch benach­tei­li­gen, wäh­rend sie als neu­tra­le Ver­wal­tungs­pra­xis erschei­nen. Die­se nor­ma­li­sier­ten Aus­schlüs­se wer­den nicht als direk­te Dis­kri­mi­nie­rung wahr­ge­nom­men – und genau das macht sie so gefährlich.

Beson­ders per­fi­de wird die­se Poli­tik in Zei­ten, „in denen CSDs zur Ziel­schei­be rechts­extre­mer Angrif­fe wer­den“. Allein in den letz­ten Wochen häu­fen sich Angrif­fe auf que­e­re Ver­an­stal­tun­gen und Ein­rich­tun­gen – von zer­stör­ten CSD-Ban­nern bis hin zu gewalt­tä­ti­gen Über­grif­fen. Gera­de jetzt wäre poli­ti­scher Rück­halt „mehr als ange­bracht“ gewe­sen. Statt­des­sen nutzt Klöck­ner die­se kri­ti­sche Situa­ti­on, um que­e­re Men­schen wei­ter zu mar­gi­na­li­sie­ren und lie­fert eine Steil­vor­la­ge für alle, die que­e­re Rech­te als „Ideo­lo­gie“ dif­fa­mie­ren wol­len. Das Timing könn­te kaum zyni­scher sein.

Selbst aus den eige­nen Rei­hen kommt Kri­tik: CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter Jan-Mar­co Luc­zak for­dert eine Lösung, „die das jen­seits der gebo­te­nen Neu­tra­li­täts­pflicht ermög­licht“, und betont, dass beim CSD „eine Mil­li­on Men­schen für Gleich­be­rech­ti­gung und Tole­ranz“ demons­trie­ren – Wer­te, für die auch der Bun­des­tag einstehe.

Der Rück­tritt als logi­sche Konsequenz

Julia Klöck­ners Amts­füh­rung offen­bart ein gefähr­li­ches Mus­ter insti­tu­tio­na­li­sier­ter Heu­che­lei: Unter dem Deck­man­tel ver­meint­li­cher Neu­tra­li­tät wird sys­te­ma­tisch gegen que­e­re Sicht­bar­keit vor­ge­gan­gen, wäh­rend die eige­ne poli­ti­sche Agen­da – sei es beim Kir­chen­tag oder in der Kir­chen­po­li­tik – mit der Sub­ti­li­tät eines Dampf­ham­mers vor­an­ge­trie­ben wird.

Die­se kal­ku­lier­te Dop­pel­mo­ral ist nicht nur heuch­le­risch, sie ist demo­kra­tie­schä­di­gend. Wenn die zweit­höchs­te Reprä­sen­tan­tin des Staa­tes que­e­re Men­schen sys­te­ma­tisch unsicht­bar macht und dabei den Ver­wal­tungs­man­tel umhängt, dann zeigt das die gan­ze Per­fi­die einer Poli­tik, die Mar­gi­na­li­sie­rung als büro­kra­ti­schen Nor­mal­fall tarnt.

Die Her­aus­for­de­rung liegt dar­in, die­se sub­ti­len Pro­zes­se der insti­tu­tio­nel­len Aus­gren­zung zu erken­nen und aktiv zu dekon­stru­ie­ren. Klöck­ners Vor­ge­hen ist ein Lehr­buch­bei­spiel dafür, wie struk­tu­rel­le Dis­kri­mi­nie­rung funk­tio­niert: unsicht­bar für die Mehr­heits­ge­sell­schaft, aber hoch­ef­fek­tiv in der sys­te­ma­ti­schen Benach­tei­li­gung quee­rer Menschen.

Klöck­ner soll­te end­lich die Kon­se­quen­zen aus ihrer sys­te­ma­ti­schen Aus­höh­lung demo­kra­ti­scher Wer­te zie­hen und zurück­tre­ten. Wenn sie unbe­dingt Kir­chen­po­li­tik machen will, kann sie das ger­ne bei ihrem ehe­ma­li­gen Arbeit­ge­ber Nest­lé tun – aber nicht vom zweit­höchs­ten Amt der Repu­blik aus. Das wäre das Min­des­te, was que­e­re Men­schen und alle ande­ren, die an tat­säch­li­che demo­kra­ti­sche Reprä­sen­ta­ti­on glau­ben, von ihr erwar­ten können.

Ein Par­la­ment, das sich der quee­ren Com­mu­ni­ty ver­wei­gert, ver­wei­gert sich der Demo­kra­tie selbst. Denn Demo­kra­tie lebt von der Sicht­bar­keit aller ihrer Bürger*innen – nicht nur der­je­ni­gen, die der Bun­des­tags­prä­si­den­tin poli­tisch genehm sind.


Titel­bild: Sven Vol­kens, CSD Ber­lin 2018 05, CC BY-SA 4.0