29. Juni 2025

Park­bank

Von tomate
Lese­dau­er 4 Minu­ten

Die Bank steht im Schat­ten einer alten Bau­mes, die Blät­ter machen ein sanf­tes Geräusch, wenn der Wind durch sie hin­durch­streicht. Ich sit­ze hier seit einer hal­ben Stun­de, viel­leicht auch län­ger. Zeit spielt kei­ne Rol­le an einem Sonn­tag Nach­mit­tag wie die­sem, wenn die Son­ne warm auf mei­ne Schul­tern scheint und der Park sich lang­sam mit Leben füllt.

Ein jun­ges Paar kommt den Weg ent­lang. Zwei Jun­gen, viel­leicht sech­zehn oder sieb­zehn Jah­re alt. Ihre Fin­ger sind inein­an­der ver­schränkt, so selbst­ver­ständ­lich wie Atmen. Der eine trägt ein über­gro­ßes Band-Shirt, der ande­re Jeans mit auf­ge­ris­se­nen Knien. Sie reden lei­se mit­ein­an­der, lachen über etwas, das nur sie ver­ste­hen. Als sie näher kom­men, sehe ich, wie der Grö­ße­re dem ande­ren sanft über den Hand­rü­cken streicht, eine win­zi­ge Ges­te der Zärt­lich­keit, die mein Herz warm wer­den lässt.

Sie gehen vor­bei, ohne mich zu bemer­ken. War­um soll­ten sie auch? Ich bin nur ein Mann mitt­le­ren Alters auf einer Park­bank, der den Nach­mit­tag ver­strei­chen lässt. Aber wäh­rend ich ihnen nach­se­he, wie sie sich lang­sam ent­fer­nen, ihre Hän­de immer noch inein­an­der ver­wo­ben, brei­tet sich etwas in mei­ner Brust aus. Freu­de. Rei­ne, unge­trüb­te Freu­de über die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit, über die­se Leich­tig­keit, mit der sie ihr Leben leben können.

Und dann, lei­ser, aber nicht weni­ger real: ein Stich. Ein klei­ner Schmerz, der anders ist als die Erin­ne­rung an die Schlä­ge. Es ist Neid. Ich benei­de sie um das, was sie haben und was ich nie hat­te – um die­se sorg­lo­sen ers­ten Schrit­te in die Lie­be, um die Mög­lich­keit, ein­fach zu sein, ohne Angst vor dem nächs­ten Tag. Um eine Jugend, die nicht von Angst über­schat­tet war.

Und dann, wie ein Schat­ten, der über die Son­ne zieht, bin ich wie­der fünfzehn.

Es ist der Tag, an dem ich end­lich den Mut gefasst habe. Ich ste­he mit mei­nen bes­ten Freun­den zusam­men und sage es ihnen. Die Wor­te, die ich so lan­ge in mir getra­gen habe. „Ich bin schwul.“

Sie nicken. Sie sagen, es sei okay. In die­sem Moment den­ke ich, dass alles okay sein wird.

Aber Geheim­nis­se haben in der Schu­le kur­ze Bei­ne. Bis zum Ende des Tages wis­sen es alle. Geschich­ten wer­den dar­aus gespon­nen, die nichts mehr mit mei­ner Wahr­heit zu tun haben. Und dann war­ten sie auf mich.

Es sind nicht frem­de Gesich­ter. Es sind die, von denen ich dach­te, sie wür­den mich ver­ste­hen. Die sich hät­ten mit mir freu­en sol­len. Statt­des­sen stra­fen sie mich für mei­ne Ehr­lich­keit. Für den Mut, der sich als Nai­vi­tät her­aus­ge­stellt hat.

Die Schlä­ge kom­men, aber schlim­mer als der Schmerz ist die Erkennt­nis: Ich habe mich geirrt. In allem. In ihnen, in mir, in der Hoff­nung, dass Wahr­heit belohnt wird statt bestraft.

Als es vor­bei ist, schme­cke ich Blut und ver­ste­he, dass ich jah­re­lang nicht mehr so ehr­lich sein wer­de. Dass ich ler­nen wer­de, unsicht­bar zu sein, weil sicht­bar sein zu gefähr­lich ist. Es soll­te mir nur leid­lich gelin­gen, aber gut genug, um noch hier zu sein. 

Auf der Park­bank atme ich tief ein und las­se die Erin­ne­rung wie­der gehen. Das Paar ist jetzt fast außer Sicht­wei­te, zwei win­zi­ge Gestal­ten am ande­ren Ende des Parks. Aber ihre ver­schränk­ten Hän­de leuch­ten noch immer in mei­nem Gedächtnis.

Nach die­sem Tag habe ich drei Jah­re lang nie­man­dem mehr erzählt, wer ich wirk­lich bin. Drei Jah­re, in denen ich mir ein­ge­re­det habe, dass es viel­leicht nur eine Pha­se war, dass ich mich geirrt hat­te, dass die Schmer­zen in mei­nen Rip­pen und das Echo ihrer Wor­te wich­ti­ger waren als mei­ne Wahr­heit. Drei Jah­re, in denen ich gelernt habe, unsicht­bar zu sein. Drei Jah­re, in denen ich ande­ren Jun­gen dabei zuse­hen muss­te, wie sie ihre ers­ten Bezie­hun­gen erleb­ten, wäh­rend ich noch nicht ein­mal mir selbst erlau­ben konn­te zu träumen.

Es hat noch viel län­ger gedau­ert, bis ich ver­stan­den habe, dass Unsicht­bar­keit kei­ne Sicher­heit ist. Sie ist nur eine ande­re Art des Erstickens.

Ein Wind­stoß rauscht durch die Baum über mir und lässt die Blät­ter tan­zen. Irgend­wo im Park ruft jemand den Namen eines Hun­des. Ein Jog­ger trabt vor­bei, Kopf­hö­rer in den Ohren, ver­sun­ken in sei­ne eige­ne Welt. Das Leben geht wei­ter, wie es immer wei­ter­ge­gan­gen ist, auch nach jenem Diens­tag im März, auch nach all den Jah­ren, die folgten.

Aber etwas hat sich ver­än­dert. Ich sehe es in den Hän­den der Teen­ager, die vor­hin vor­bei­ge­gan­gen sind. Ich sehe es in der Art, wie sie lachen konn­ten, ohne über die Schul­ter zu bli­cken. Ich sehe es dar­in, dass sie ein­fach sein konn­ten, was sie sind, ohne sich dafür zu entschuldigen.

Und ich spü­re es in der Wär­me, die sich in mei­ner Brust aus­brei­tet, wenn ich dar­an den­ke. Es ist nicht nur Freu­de über das, was die­se Jun­gen haben. Es ist auch etwas ande­res, etwas Grö­ße­res: die Erkennt­nis, dass der Schmerz von damals nicht umsonst war, wenn er dazu bei­getra­gen hat, eine Welt zu schaf­fen, in der ande­re es leich­ter haben.

Ich ste­he auf von der Bank und recke mich. Mei­ne Bei­ne sind steif vom lan­gen Sit­zen. Als ich den Park ver­las­se, wer­fe ich noch einen letz­ten Blick zurück auf den Weg, den das Paar ent­lang­ge­gan­gen ist. Ihre Spu­ren sind längst ver­schwun­den, aber etwas von ihrer Leich­tig­keit bleibt in der Luft hängen.

Auf dem Heim­weg den­ke ich dar­an, wie es wohl gewe­sen wäre, wenn ich mit fünf­zehn sol­che Paa­re im Park hät­te sehen kön­nen. Ob es mir Mut gemacht hät­te. Ob alles anders gewe­sen wäre. Ein Teil von mir wird immer um die­se unschul­di­gen ers­ten Male trau­ern – um den ers­ten Kuss, der nicht von Angst über­schat­tet war, um die ers­ten Schmet­ter­lin­ge im Bauch, die sich nicht gleich in Panik ver­wan­delt haben. Um das Recht, jung und ver­liebt zu sein, ohne den Preis dafür bezah­len zu müssen.

Ich bin froh, dass es heu­te anders ist. Ich bin dank­bar für die Welt, in der die­se Jun­gen leben kön­nen – auch wenn sie noch bes­ser sein könn­te. Aber das bringt mir mei­ne Jugend nicht zurück. Das macht die Jah­re der Angst nicht unge­sche­hen. Manch­mal den­ke ich, dass das okay ist – dass nicht alles geheilt wer­den muss, nicht alles einen Sinn haben muss. Manch­mal den­ke ich, dass es genug ist zu wis­sen, dass ande­re es leich­ter haben werden.

Heu­te ist nicht so ein Tag. Heu­te fühlt sich der Neid scharf an, und das ist auch in Ord­nung. Mor­gen viel­leicht weniger.


Titel­bild: Babe­wynWie­se-u-crui­sin­g­waeld­chen hasen­hei­de 2022-08-22CC BY-SA 4.0