Ein Mann mit einer schwarz-weißen Hundemaske.
17. Juni 2025

Liber­té, diver­si­té, per­ver­si­té! – War­um Kink zum CSD gehört

Von tomate
Lese­dau­er 4 Minu­ten

Die­ser Arti­kel ist eine aktua­li­sier­te Fas­sung mei­nes alten Bei­trags „Liber­té, diver­si­té, per­ver­si­té! (oder Kinkstro­pher Street Day)“

Jedes Jahr die glei­che Debat­te: Gehö­ren BDSM, Kink und Fetisch zum CSD? Die Ant­wort ist ein­deu­tig ja – und wer das bestrei­tet, repro­du­ziert die­sel­ben dis­kri­mi­nie­ren­den Mecha­nis­men, gegen die Pri­de ursprüng­lich antrat.

Das Pro­blem: Con­sent als Waf­fe gegen que­e­re Sichtbarkeit

Der zen­tra­le Vor­wurf gegen Kink beim CSD lau­tet sys­te­ma­tisch: „BDSM benö­tigt Zustim­mung und ich habe nicht zuge­stimmt, das zu sehen.“ Die­se schein­bar pro­gres­si­ve Argu­men­ta­ti­on ent­larvt sich bei genaue­rer Betrach­tung als per­fi­de Umdeu­tung eines eman­zi­pa­to­ri­schen Konzepts.

Seit 2020 ver­stär­ken koor­di­nier­te Troll­kam­pa­gnen wie z.B. „Ope­ra­ti­on Pri­de­fall“ die­se Dyna­mik gezielt. Die­se auf 4chan orga­ni­sier­te Kam­pa­gne ziel­te dar­auf ab, durch sys­te­ma­ti­sche Ver­brei­tung homo­pho­ber Pro­pa­gan­da und geziel­te Groo­ming-Vor­wür­fe gegen que­e­re Kinks­ter die öffent­li­che Mei­nung zu mani­pu­lie­ren. Die doku­men­tier­te Stra­te­gie ist expli­zit: „Gra­du­el­le Ver­schie­bung der Dis­kus­si­on“, um „Men­schen dazu zu brin­gen, LGBTQ-Com­mu­ni­ty-Mit­glie­der als Pädo­phi­le zu betrachten“.

Die­se mani­pu­la­ti­ven Nar­ra­ti­ve fin­den längst Ein­gang in ver­meint­lich pro­gres­si­ve que­e­re Debat­ten. Ein aktu­el­les Bei­spiel aus 2025: Der CSD Bie­le­feld ver­langt von Fetisch-Grup­pen spe­zi­el­le „Kon­sens­kon­zep­te“ – eine Son­der­be­hand­lung, die für ande­re Teilnehmer*innen nicht gilt. Dahin­ter steht die Unter­stel­lung, Kinks­ter sei­en „beson­ders anfäl­lig für sexua­li­sier­te Gewalt“. Die Lin­ke que­er spricht zu Recht von „inak­zep­ta­bler Diskreditierung“.

Wäh­rend Bie­le­feld dis­kri­mi­niert, stellt der CSD Rem­scheid klar: „Fetisch gehört zum CSD und zur quee­ren Com­mu­ni­ty. Solan­ge Geset­ze und Regeln ein­ge­hal­ten wer­den […] ist Platz für alle, die stolz und frei auf die Stra­ße gehen.“ Und Köln fei­ert 2025 expli­zit mit Xtre­me! und ande­ren Fetisch-Events als inte­gra­len Bestand­teil der Pride-Woche.

His­to­ri­sche Kon­ti­nui­tä­ten: Von Trans­ves­ti­ten-Geset­zen zu moder­nem „Con­sent-Shaming“

Die Instru­men­ta­li­sie­rung des Con­sent-Begriffs gegen que­e­re Sicht­bar­keit folgt einer bewähr­ten Stra­te­gie: Bereits die US-ame­ri­ka­ni­schen Anti-Trans­ves­ti­ten-Geset­ze argu­men­tier­ten, das Tra­gen geschlechts­un­ty­pi­scher Klei­dung sei straf­bar, weil die Öffent­lich­keit dem nicht „zuge­stimmt“ habe. Gegen genau die­se Logik rebel­lier­ten die Men­schen bei Stone­wall 1969 – ein Auf­stand, an dem Kinks­ter, Feti­schis­ten und Leder­trä­ger zen­tral betei­ligt waren.

In Deutsch­land mani­fes­tier­te sich die­se Logik in §175 StGB beson­ders per­fi­de: Der Para­graph dien­te nicht nur der direk­ten Kri­mi­na­li­sie­rung, son­dern auch „als Recht­fer­ti­gung für Über­wa­chung und Poli­zei­raz­zi­en an Schwu­len­treff­punk­ten, eben­so für das Füh­ren von Rosa Lis­ten“. Die Ham­bur­ger Poli­zei obser­vier­te jah­re­lang schwu­le Män­ner „durch einen Spe­zi­al­spie­gel“, um sie nach §175 anzu­zei­gen – staat­li­che Voy­eu­re, die ihre Gewalt durch ver­meint­li­chen „Schutz der Öffent­lich­keit“ legitimierten.

Die Lederd­ad­dys: Que­e­re Für­sor­ge in Zei­ten staat­li­cher Gewalt

Wenn heu­te ein 70-jäh­ri­ger Lederd­ad­dy stolz sei­ne Leder­pri­de-Flag­ge schwenkt, trägt er die Geschich­te einer Gene­ra­ti­on mit sich, die wäh­rend der AIDS-Kri­se nicht nur mit staat­li­cher Ver­nach­läs­si­gung, son­dern mit akti­ven Ver­nich­tungs­fan­ta­sien kon­fron­tiert war. Wäh­rend in Bay­ern dis­ku­tiert wur­de, „HIV-Posi­ti­ve in Lager zu ver­frach­ten“, bil­de­ten Leder Com­mu­ni­ties und „Dykes on Bikes“ Ersatz­fa­mi­li­en für Ster­ben­de, die von ihren bio­lo­gi­schen Fami­li­en ver­sto­ßen wor­den waren.

Die­se Für­sor­ge­ar­beit geschah nicht trotz, son­dern wegen ihrer „Anders­ar­tig­keit“. Die Leder Com­mu­ni­ty ent­wi­ckel­te bereits in den 1950ern Codes der Erken­nung – Band­a­nas, Han­ky-Codes, spe­zi­fi­sche Klei­dung – als Über­le­bens­stra­te­gie in einer feind­li­chen Umgebung.

Pri­de als radi­ka­le Existenzfeier

Pri­de wur­de von „Kinks­tern, Fetischist*innen, gen­der non-con­forming, quee­ren Men­schen“ gegrün­det, nicht von „des­in­fi­zier­ten schwu­len Män­nern“ (Ori­gi­nal: „des­in­fec­ted gay men“). Bren­da Howard, Mit­or­ga­ni­sa­to­rin des ers­ten Chris­to­pher Street Libe­ra­ti­on Day 1970, war „jüdisch, behin­dert, Sex­ar­bei­te­rin, Kinks­te­rin“ – ihr Slo­gan: „Bi, Poly, Switch – ich bin nicht gie­rig, ich weiß, was ich will.“ (Ori­gi­na: „Bi, Poly, Switch – I’m not gree­dy, I know what I want.“)

1973 wur­den Stonewall-Aktivist*innen von assi­mi­la­tio­nis­ti­schen Schwu­len aus­ge­buht – aus Syl­via Rive­ras legen­dä­rer „Y’all Bet­ter Quiet Down“-Rede stammt die bis heu­te gül­ti­ge Kri­tik an der Ver­ein­nah­mung radi­ka­ler quee­rer Poli­tik durch bür­ger­li­che Normalisierungsbestrebungen.

Sys­tem­ana­ly­se: Kom­mer­zia­li­sie­rung als Disziplinierungsinstrument

Die Debat­te um Kink beim CSD ist kein kul­tu­rel­ler Kon­flikt, son­dern Aus­druck struk­tu­rel­ler Macht­ver­hält­nis­se. Spon­so­ren wie Pay­Pal oder Deut­sche Bank haben ein mate­ri­el­les Inter­es­se an „sau­be­ren“ Pri­des – die­sel­ben Insti­tu­tio­nen, die Sexarbeiter*innen sys­te­ma­tisch von Finanz­dienst­leis­tun­gen ausschließen.

CSD-Veranstalter*innen inter­na­li­sie­ren die­se Zwän­ge und schaf­fen prä­ven­tiv „siche­re Umfel­der“ für Kon­zer­ne. Das Ergeb­nis: sani­ti­zed Pri­de, die ihre eige­nen his­to­ri­schen Wur­zeln verleugnet.

Die Selek­ti­vi­tät der Empö­rung: Struk­tu­rel­le Que­er­feind­lich­keit entlarven

War­um erregt que­e­re Leder­klei­dung beim CSD Anstoß, wäh­rend die­sel­be Klei­dung in hete­ro­nor­ma­ti­ven Kon­tex­ten (Clubs, Wer­bung, Film) als „nor­mal“ gilt? Die­se Selek­ti­vi­tät ent­larvt das wah­re Pro­blem: Nicht die Klei­dung ist das Pro­blem, son­dern ihre Träger*innen.

Die sys­te­ma­ti­sche Ver­knüp­fung von quee­rer Kink-Sicht­bar­keit mit Groo­ming-Vor­wür­fen – ein Kern­be­stand­teil von „Ope­ra­ti­on Pri­de­fall“ – funk­tio­niert nur, weil sie an tief­sit­zen­de que­er­feind­li­che Ste­reo­ty­pe anknüpft. Die­se fal­se-flag ope­ra­ti­ons nut­zen die Ver­un­si­che­rung quee­rer Com­mu­ni­ties aus, um inter­ne Spal­tun­gen zu vertiefen.

2022 bezeich­ne­te die Rap­pe­rin Kat­ja Kra­sa­vice Kinks­ter beim Ber­li­ner CSD als „Per­ver­se“ und „Pädo­phi­le“, die „ihre ekel­haf­ten, per­ver­sen Fan­ta­sien aus­le­ben“ wol­len. Ihre Het­ze fand brei­te media­le Auf­merk­sam­keit und zeigt, wie mani­pu­la­ti­ve Nar­ra­ti­ve selbst von quee­ren Per­so­nen inter­na­li­siert und repro­du­ziert wer­den. 2024 griff eine breit dis­ku­tier­te You­Tube-Debat­te um die Trans­frau Per­siaX die­se Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter erneut auf, wobei erst­mals sicht­bar wur­de, wie ein „diver­ses und wahr­schein­lich mehr­heit­lich hete­ro­se­xu­el­les Publi­kum“ auf die­se The­men reagiert.

Dop­pel­te Stan­dards: Der all­ge­gen­wär­ti­ge Hetero-Voyeurismus

Wenn ich durch die Stadt gehe, kon­fron­tiert mich per­ma­nent sexua­li­sier­te Wer­bung, ob ich will oder nicht. 30% der Frau­en wer­den in der Wer­bung sexua­li­siert dar­ge­stellt – eine Omni­prä­senz, gegen die nie­mand „Con­sent-Ver­wei­ge­rung“ gel­tend macht. Ich sehe auf Bil­dern von Hete­ro-Par­tys, wie que­e­re Ästhe­tik zur Par­ty-Klei­dung wird: Leder­ge­schirr „ist inzwi­schen eher in Kos­tüm­lä­den als in Sex­shops zu fin­den“. Da hat mich auch nie­mand gefragt, ob ich das sehen will.

Aber wenn ich als quee­rer Mensch die­sel­be Klei­dung tra­ge, die Hete­ros für ihre Par­tys appro­pri­iert haben, betrei­be ich angeb­lich „Groo­ming“. Die Initia­ti­ve „Werbemelder*in“ doku­men­tier­te sys­te­ma­tisch, wie „sexis­ti­sche Wer­bung aus der Wirt­schaft“ den öffent­li­chen Raum domi­niert – allein 2019 gin­gen 120 Beschwer­den über geschlech­ter­dis­kri­mi­nie­ren­de Wer­bung beim Deut­schen Wer­be­rat ein.

Hete­ros dür­fen jeden Qua­drat­me­ter öffent­li­chen Raums sexua­li­sie­ren, que­e­re Ästhe­tik für ihre Events kom­mo­di­fi­zie­ren und ihre Kör­per zur Schau stel­len – aber que­e­re Sicht­bar­keit wird sofort patho­lo­gi­siert. Die­se Dop­pel­mo­ral ent­larvt das wah­re Pro­blem: Es geht nicht um „Kin­der­schutz“, son­dern um die Kon­trol­le quee­rer Kör­per und die Auf­recht­erhal­tung hete­ro­nor­ma­ti­ver Hegemonie.

Con­sent rich­tig ver­stan­den: Gegen instru­men­ta­li­sier­ten Kinderschutz

Der mani­pu­la­ti­ve Ver­weis auf „die Kin­der“ repro­du­ziert klas­si­sche Aus­gren­zungs­nar­ra­ti­ve. Kin­der exis­tie­ren beim CSD nicht im luft­lee­ren Raum – sie sind mit Eltern da, die für alters­ge­rech­te Erklä­run­gen zustän­dig sind. Die For­de­rung, que­e­re Sexua­li­tät aus der Öffent­lich­keit zu ver­ban­nen, weil Kin­der sie sehen könn­ten, ist struk­tu­rell iden­tisch mit den Argu­men­ten gegen jede que­e­re Sicht­bar­keit überhaupt.

Ech­ter Kin­der­schutz wür­de die­se Kin­der vor que­er­feind­li­cher Indok­tri­na­ti­on schüt­zen, nicht vor der Erkennt­nis, dass Men­schen ver­schie­den leben und lieben.

Fazit: Kink als inte­gra­ler Bestand­teil quee­rer Befreiung

Kink gehört zum CSD, weil Kink zur quee­ren Geschich­te gehört. Wer das bestrei­tet, soll­te sich ehr­lich fra­gen: Will ich Pri­de als Fei­er quee­rer Befrei­ung – oder als Scha­ra­de für die Aner­ken­nung durch eine Gesell­schaft, die uns nur akzep­tiert, wenn wir uns selbst verleugnen?

Die Ant­wort auf die­se Fra­ge ent­schei­det dar­über, ob Pri­de ein Akt der Rebel­li­on bleibt oder zur Folk­lo­re einer Bewe­gung wird, die ihre eige­nen Kämpfer*innen ver­ges­sen hat.


Den Titel ver­dan­ke ich @der_zaunfink. Lest auch sei­nen Blog.